Tödliche Dosis - ein Auszug

Aschera und Enjill sind in Saramee angelangt und auf der Suche nach dem vermissten Priester. Ascheras Vermutung, dass der Freund Enjills der menschlichen Schwäche Geld verfallen ist, bestätigt sich.

Mit starrem Blick sah Enjill ihm nach, ignorierte Ascheras Hand, die ihm sanft den Nacken kraulte. Vielleicht bemerkte er sie auch einfach nicht.

„Er hat die Priesterkleidung abgelegt?“, murmelte er tonlos. „Das glaube ich nicht, er muss sich irren.“

Aschera sagte nichts dazu, während sie sich nach den drei Lagerhäusern umsah. Enjill brauchte Zeit, um die Erkenntnis zuzulassen, die ihr schon im Tempel gekommen war. Sie selbst musste erst noch zur Kenntnis nehmen, dass die Priester tatsächlich so naiv und weltfremd waren zu glauben, dass sie mit ihrer Güte nur Güte von anderen empfangen würden. Dabei mussten sie doch im eigenen Land immer wieder erfahren, dass dem nicht so war. Die Obrigkeit in Nominak setzte ihrer Handlungsfähigkeit schließlich auch sehr enge Grenzen.

„Du hast es gewusst, nicht wahr?“

Enjills Stimme riss sie aus ihren Gedanken und sie sah ihn mit leicht verzagter Mine an. „Sagen wir, für mich lag die Vermutung sehr nahe. Ich kenne diese Welt und weiß, wie leicht sich Menschen korrumpieren lassen. Die meisten jedenfalls. Ihr Priester seid zum großen Teil rühmliche Ausnahmen, aber wer sagt, dass dies nicht nur so lange gilt, bis jemand das richtige Angebot macht?“

Enjill schnaufte ungehalten. Wut stieg in ihm auf. Natürlich, das Leben der Priester war nicht immer leicht und oft genug auch sehr entbehrungsreich. Aber man wurde nicht Priester, ohne das genau zu wissen und akzeptiert zu haben. Ausgerechnet Gorian... nein, ich kann es nicht glauben, fuhr es ihm durch den Kopf. Nie hätte Enjill vermutet, dass sein Freund zu so etwas fähig war.

„Komm, wir fragen mal in den Lagerhäusern nach.“ Aschera zog ihn am Ärmel mit. Sie hatte aber nur wenig Hoffnung, dass etwas dabei heraus kommen würde.

Sie hielt auf das erste der großen Gebäude zu und staunte über dessen Dimensionen. Dieses Lagerhaus überspannte zum Teil eine Anlegestelle, sodass auch bei starkem Regen entladen werden konnte, ohne das der Laderaum des Schiffes voll lief. Sie war an eine offene Seitentür heran getreten und spähte hinein. Kein Schiff dümpelte im brackigen Wasser des Hafenbeckens, das Lagerhaus war nur spärlich befüllt.

Enjill war hinter sie getreten und blickte sich ebenfalls staunend um, bis er einer Gestalt gewahr wurde, die im Schatten eines großen Stapels Kisten mit einer Kladde in der Hand hin und her lief. Enjill wies Aschera auf den Mann hin, den sie im gleichen Augenblick selbst entdeckt hatte.

„Hallo!“, rief sie dem Mann zu, der sich zu den beiden Personen an der Seitentür umdrehte und wartete, bis sie näher an ihn heran gekommen waren. Aschera erklärte kurz ihr Anliegen und erwähnte die Sturmschwinge I, mit welcher der Priester nach Saramee gekommen sein sollte. Aber der Wirtschafter schüttelte nur den Kopf.

„Neinnein, meine Dame, ganz sicher nicht. Die Seeleute sind dazu angehalten, keine Passagiere aufzunehmen. Und wenn einer der Herren, denen die Schiffe gehören, selbst einen Passagier eingeladen hätte, dann wüsste ich davon. Ganz sicher. Ich bin schließlich schon seit vielen Jahren der Lademeister hier!“

Aschera spürte, wie sich Enjill hinter ihr verspannte und bevor er das, was er genau wie sie auch dachte, aussprechen konnte, verabschiedete sie sich schon wieder. Ihr war neben der Tatsache, dass der Mann log, noch etwas anderes aufgefallen.

„Fünf Mann“, flüsterte sie Enjill zu, als sie sich zum Gehen wandten und der Lademeister sich schleunigst zwischen die Kisten zurückzog. Sie spannte sich und griff zum Heft ihres Schwertes das sie wieder in einer Scheide auf ihrem Rücken trug. Enjill begriff nicht sofort, was sie meinte, aber als auch er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, fuhr seine Hand zum einzigen Objekt, das als Waffe dienen konnte: Dem langen Dolch in seiner Heilmitteltasche.

„Sie zu, das du hier raus kommst, keine langen Kämpfe, nicht hier auf dem Terrain, das die Kerle kennen!“, erklärte Aschera hastig und beschleunigte ihre Schritte. Schnell wurde ihr klar, dass die Kerle alles daran setzen würden, sie nicht entkommen zu lassen, denn einer verriegelte die Seitentür und baute sich breit davor auf.

„Dann müssen wir wohl schwimmen!“, zischte Enjill und trat einen Schritt beiseite, um nach etwas zu greifen, das auf dem Boden zwischen Säcken lag. Sofort war er wieder an ihrer Seite und fixierte die beiden Kerle, die sich ihm aus dem Schatten näherten.

Ascheras Augen hatten nur für Sekundenbruchteile die beiden Kerle auf ihrer Seite und den Türsteher aus dem Blickfeld genommen, um zu sehen, was Enjill machte. Dann grinste sie breit. Es war das zufriedene, raubtierhafte Grinsen einer Letardenmutter, deren Junges gerade die erste Beute nach Hause gebracht hatte. Denn Enjill hatte gerade erneut bewiesen, dass er einer Bedrohung durchaus gewachsen war.

Der Priester lief angespannt wie eine Bogensehne neben Aschera. Den Langdolch hatte er wieder weg gesteckt, da er keine Erfahrung im Nahkampf besaß. Dafür hatte er mit beiden Händen eine schwere Stange umfasst, an deren Ende ein langer, scharfer Schauerhaken befestigt war. Eine Waffe die ihm vertrauter war, das ahnte Aschera. Denn etwas anderes als lange Stangen dürfte Enjill kaum gehabt haben, als er sich viele Jahre durch die Küstenwälder geschlagen hatte, umgeben von hungrigen Raubtieren. Es war ein Werkzeug, um sich Angreifer vom Leib zu halten. Ein Problem würde Enjill aber immer im Wege stehen und sie hoffte sehr, dass es nicht so weit kommen musste: Er würde niemals einen Menschen töten können.

Vier der fünf bulligen Seeleute zogen ihren Ring um die Beiden dichter, der Fünfte brauchte nur zu warten, bis seine Kumpel ihm die Beute in die Hände trieben. Doch weder Aschera noch Enjill hatten vor, ihm näher zu kommen.

Die Söldnerin war sich sicher, dass Enjill verstanden hatte, was zu tun war. Einen langen Kampf würde der mit menschlichen Gegnern unerfahrene Priester nicht durchstehen. Aber der Überraschungseffekt, dass er überhaupt in der Lage war sich seiner Haut zu wehren, konnte ihnen die Chance eröffnen, ins Hafenbecken zu entkommen.

Der Kreis schloss sich um sie. Auf ein kurz gezischtes Kommando Ascheras hin stürmten sie los, Seite an Seite und mit einer einzigen, gleichförmigen Bewegung. Die beiden Männer vor ihnen waren einen Augenblick zu lange überrascht um zu reagieren, als sie Schwert und Schauerhaken auf sich zuzischen sahen.

Die Klinge von Ascheras Schwert zog nur vor der Brust des Mannes vorbei, da sie ihren Begleiter nicht jetzt schon mit ihrer Kaltblütigkeit konfrontieren wollte. Es hinterließ dennoch einen tiefen Striemen in der haarigen Haut und der Mann zuckte mit einem Schmerzensschrei zurück. Enjills Schauerhaken traf mit der Rückseite des Stahles voller Wucht genau in die Kerbe zwischen Hals und Schulter, die zu einem plötzlichen, wenn auch nur kurzfristigen Verlust der Sinne führte. Der Mann taumelte von ihm weg und kippte über den Rand des Anlegeplatzes.

Bevor die verbliebenen Seeleute reagieren konnten, rannte ihre Beute schon davon, zu schnell und unerreichbar für die trägen, massigen Männer. Am Ende des Lagerhauses angekommen hechteten Aschera und Enjill Kopf voran in das brackige Wasser und tauchten mit kräftigen Schwimmzügen weg von dem Anleger. Erst als sie glaubten, dass es ihnen die Lungen zerreißen würde, wenn sie noch einen Augenblick länger unter Wasser blieben, tauchten sie wieder auf.

Keuchend sahen sie sich um, nicht weit voneinander entfernt Wasser tretend. Aschera entdeckte die Männer in der dunklen Schiffseinfahrt, aber sie schienen keine Anstalten zu machen, ihnen zu folgen.

„Komm, wir müssen an Land“, rief sie Enjill zu.

Er nickte und schwamm in Richtung eines bereits hell mit Öllampen beleuchteten, und von Menschen bevölkerten Anlegers. Aschera grinste wieder. Natürlich, je mehr Menschen um sie herum waren, desto weniger Chancen gab es, sie anzugreifen.

Enjill erreichte das Ufer zuerst und blieb keuchend auf einem der riesigen Gesteinsbrocken sitzen, die den Kai gegen starken Wellengang schützen sollten. Missmutig begutachtete er im schwachen Licht der Dämmerung den Inhalt seiner Tasche und entnahm ihr ein paar Bündel Kräuter. Aschera konnte es sich nicht verkneifen, sie musste lachen.

Er sah sie traurig an. „He, das ist nicht witzig, die Kräuter sind hin, die kann ich wegwerfen.“

Sie setzte sich zu ihm und legte ihren Arm um seine Schultern. „Wir gehen morgen bei den Kräuterhändlern vorbei und holen Neue. Ich kaufe sie dir.“

Ihre Hand griff nach den durchnässten Kräuterbündeln und warf sie in den Hafen. Enjill sah ihnen betreten nach, als sich die durch Trocknung haltbar gemachten Heilmittel mit dem Salzwasser vollsogen und untergingen. Dann überprüfte er noch, ob die kleinen Phiolen und Fläschchen mit Tinkturen den Kampf überstanden hatten. Doch da waren keine Verluste zu beklagen.

Die Erkenntnisse dieses Tages waren zu viel für ihn, er barg sein Gesicht in den Händen und Aschera vernahm das, was sie am meisten fürchtete, weil sie dagegen nicht ankämpfen konnte: Schluchzen.

„Bitte nicht, Enjill“, hauchte sie ihm ins Ohr und küsste ihn auf die Wange. „Du hast dein Vertrauen in den falschen Freund gesetzt. Jemanden, der zu anfällig für die Verlockungen dieser Welt war und euch Priester und sicher auch seine eigene frühere Überzeugung verraten hat. Aber du hast noch deine Überzeugung und du hast eine Mission zu erfüllen: Das Kraut zu finden und Menschen zu heilen.“

Hier gibt es noch die dazugehörige Illustration, Cronn und Enjill im Kampf.

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