Grüne Weiden

Auszug

Wieder tauchte ein Schatten vor ihm im Nebel auf. Ein Pferd? Nun, zumindest hatte es vier Beine und einen Körper wie ein Pferd. Saß da ein Reiter drauf? Noel vermeinte einen menschlichen Oberkörper auszumachen.

“Auro?” Ihm wurde nun doch etwas mulmig, denn der Nebel erschien ihm viel zu dicht und zu düster für den sonnigen Tag. Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen, geschweige denn den Weg und die Bäume am Bach. Angst kroch in ihm hoch. “Auro, lass mich nicht im Stich!”

Der Schatten kam nun näher und um ihn herum schien der Nebel regelrecht zu leuchten.

Noels Augen wurden groß. Was da auf ihn zukam, hatte er bislang nur in seinen Büchern über griechische Götter- und Heldensagen gesehen.

“Cheiron?”, hauchte er, als das seltsame Pferd vor ihm stand.

“Cheiron? Nein, den gibt es nicht mehr, mein Junge, mein Name ist Chaios.”

Das Wesen, das Noel nun als Zentauren erkennen konnte, sprach mit einer tiefen, ruhigen Stimme. Der einzige Unterschied zu den Zentauren der griechischen Sage, den Noel ausmachen konnte, war, dass das Gesicht des Wesens doch deutlich pferdeähnliche Züge hatte, keine menschlichen. Der Pferdekörper und das Haupthaar des Zentauren waren silberweiß, die Haut des menschlichen Körpers war von einem silbrigen Grau. Er schien irgendwie aus sich selbst heraus zu leuchten, was ihn fast durchsichtig erscheinen ließ.

“Was bist du?”, fragte Noel fast ehrfürchtig, als er seine Fassung wieder erlangt hatte.

“Ich bin ein Begleiter. Wenn ein Pferd sein Leben beendet, hole ich seine Seele ab und bringe sie an den Ort, den es sich verdient hat.”

“Oh ... dann hast du auch Auro begleitet?” Noel sah sich um, da er sich jetzt sicher war, sein Pferd gesehen zu haben.

“Nun, dein Pferd macht uns noch ein bisschen Kopfzerbrechen, deshalb habe ich ihn geschickt, damit er dich hierher lockt. Er ist noch immer in der Zwischenwelt gefangen, weil über ihn noch keine Entscheidung gefällt werden konnte. Du musst ihn freisprechen”, erwiderte der Zentaur.

“Freisprechen? Warum, wovon? Natürlich mache ich das, was soll ich tun?”

Anstelle einer Antwort kniete der Zentaur vor dem Rollstuhl nieder und wies auf seinen Rücken. Etwas skeptisch, aber ohne Zögern zog sich Noel an der Mähne des Zentauren nach vorne und hob mit einer Hand sein Bein über den Widerrist. Als Chaios sich wieder erhob, klammerte Noel sich mit beiden Armen um dessen Hals, während der Zentaur seinerseits mit seinen Händen die Oberschenkel des Jungen packte.

So trabte er mit Noel in den Nebel. Als es wieder heller um sie herum wurde, kam ein Schatten von der Seite und schloss sich ihnen an.

“Auro!”, rief Noel, verstummte aber, als der Zentaur ein leises “Psst!” zischte.

Noel beobachtete den Schatten an seiner Seite. Es war Auro, ganz sicher, aber der ehemals so temperamentvolle und schnelle Wallach bewegte sich, als hätte er Steine an den Beinen. Es war ein schrecklicher Anblick für Noel und wieder schossen die Tränen in seine Augen.

Grelles Sonnenlicht blendete ihn, als sie die Nebelwand verließen. Der Ort, den sie jetzt betraten, war Noel völlig unbekannt. Bestenfalls hatte er leichte Ähnlichkeit mit dem prähistorischen Steinkreis von Stonehenge, denn inmitten grüner Wiesen war ein großes Rund mit riesigen Felsen markiert. Noel fragte nicht, wo er war, es interessierte ihn auch nicht halb soviel wie die Tatsache, dass neben dem Zentauren tatsächlich sein geliebter Auro stand. Mit traurig gesenktem Kopf, struppig und wie betäubt.

Als plötzlich noch andere Wesen im Kreis auftauchten, sah Noel sich erschrocken um. Vier weitere Pferde oder besser gesagt, pferdeähnliche Wesen waren scheinbar aus dem Nichts erschienen.

Der Zentaur kniete sich ins Gras und bedeutete Noel, sich neben ihn zu setzen. Dann begann er, die Situation zu erläutern.

“Jedes Pferd hat seine Aufgabe, für die es geboren wurde. Pferde wie Auro sind dazu da, ein treuer und zuverlässiger Begleiter eines Menschen zu werden. Erfüllen sie diese Aufgabe, werden sie nach ihrem Tod auf diese schönen, unendlichen, immer grünen Weiden entlassen. Pferde, die dieser Aufgabe nicht nachkommen, werden immer wieder zurückgeschickt und wiedergeboren, allerdings nicht in ... besonders angenehme Lebensverhältnisse. Auro steht noch zwischen den Welten, weil wir uns nicht sicher sind, ob er seine Aufgabe erfüllt oder verfehlt hat. Er war dir treu, ja, aber er hat dir auch sehr geschadet, weil er in Panik geriet. Das darf ein gutes Reitpferd nicht.

Dies sind die Elementare, sie entscheiden, welchen weiteren Weg eine Pferdeseele geht.”

Der Zentaur wies auf die bis dahin stumm wie Statuen dastehenden Pferdewesen.

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