Opfergaben - Auszug

Die Illustration zu dieser Geschichte findet ihr hier.

Ein Opfer.

Man hatte dieses Wesen als Opfer eingemauert, damit sein Geist das Bauwerk bewacht und vor Widrigkeiten schützt. Dieses grauenvolle Ritual, das noch immer in einigen Gegenden von Nominak durchgeführt wurde und das er sich einst geweigert hatte durchzuführen.

Gerakas war sich sicher, dass nur dies der Grund dafür sein konnte, warum dieser Vertreter des alten Volkes hier, wie man an seiner Haltung wohl ablesen konnte, bei lebendigem Leibe eingemauert worden war. Wie lange mochte sein Leiden wohl gedauert haben? Allein, ohne Nahrung, in einem Raum der gerade groß genug zum stehen oder liegen war. Umgeben vom irremachenden Rauschen des Schmutzwassers, das vermutlich ebenso grässlich gestunken hatte wie es die Abwässer der Stadt Saramee nun taten?

Tränen bahnten sich ihren Weg aus Gerakas Augen und zogen glitzernde Bahnen über sein verschmutztes Gesicht. Er bedauerte das Wesen zutiefst, so sehr ihn seine Überreste auch erschreckten. „Den Göttern sei Dank, dass in Saramee heute keiner mehr ein solch irrsinniges Opfer verlangt. Du dauerst mich, mein Freund. Ich werde dafür sorgen, dass deine Ruhe auch weiterhin nicht gestört wird.“

Der Gegenstand, der zuerst seine Aufmerksamkeit mit seinem Glitzern gefesselt hatte, fiel plötzlich um und Gerakas sprang erschrocken ein Stück zurück. Es handelte sich um eine Röhre aus Metall. Fast drei Fuß lang und ein Fuß im Durchmesser. Sie war fest verschlossen und Gerakas hatte ein wenig Mühe den leicht oxidierten Deckel abzuschrauben. Aber die hervorragende Arbeit des Bronzegießers hatte die vielen Jahrhunderte gut überstanden, so dass sich das Gewinde nicht lange wehrte.

Auch der Inhalt hatte den Zahn der Zeit erfolgreich abgewehrt und der junge Baumeister konnte mit erwartungsvoller Faszination die uralten Pergamente mit Konstruktions- und Lageplänen im Licht seiner Öllampe ausrollen und studieren. Es war alles vorhanden. Zwar konnte er die Schrift und die Beschreibungen nicht entziffern, aber die Konstruktionszeichnungen waren genau so wie die seinen. Eine Art universaler Sprache, die er sehr wohl verstand.

Eine Ahnung beschlich ihn, die ihm erneut die Tränen in die Augen jagte, auch wenn er nie erfahren würde, ob er mit dieser Vermutung richtig lag. „Du warst der Baumeister dieser Anlage, nicht wahr? Und dies sind die Originalpläne, nach denen du dieses phantastische Objekt gebaut hast. Für eine Maßnahme dieser Größenordung konnte nur ein besonderes Opfer in Frage kommen – der Baumeister selbst.“

Er war sich ganz sicher. Ihm selbst hätte dieses Schicksal auch früher oder später gedroht. Wenn er zum Beispiel das Angebot des Herzogs zum Bau eines neuen Palastes angenommen hätte...

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