DIE MACHT DER ALTEN
"Alle sind tot", flüsterte Natalia verzweifelt. Das ganze Grabungsteam war hingemetzelt. Aber von den Soldaten, die sie eigentlich beschützen sollten, war keiner zu sehen. Keine Leiche in Uniform, außer dem alten Mann von der Miliz, der von Moskau mit nach Tuwa geflogen war, um die Grabung rechtlich mit den Behörden vor Ort zu regeln. "Diese miesen Schweine!"
Und was man ihr angetan hatte... Natalia wusste nicht, ob sie froh darüber sein sollte, dass ihr Körper so taub war. Die Spuren der Vergewaltigung waren eindeutig, aber sie spürte keine Schmerzen, während sie ziellos über das Gräberfeld strich. Die Leichname der Skythen waren noch in den Kurganen, aber sie waren ihrer Grabbeigaben beraubt. Und nicht nur der Dinge, die man ihnen ins Grab gelegt hatte, Waffen und Sattelzeug bei den Männern, Schmuck und Hausrat bei den Frauen, sondern auch das, was die zum Teil noch gut erhaltenen Mumien am Leibe trugen.
Fassungslos starrte Natalia in
eines der Gräber. Sie wusste, dass darin die nahezu perfekt konservierte Leiche
eines Mannes gelegen hatte, der in eine goldverzierte Lamellenrüstung gekleidet
gewesen war. Um die Rüstung von seinem Körper herunter zu bekommen, hatte man
die Mumie mit einem Beil in Stücke geschlagen, die überall verstreut lagen.
Natalia riss sich von dem Anblick los und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Ihr eigenes Überleben. Unweit des Fürstengrabes war das Lager der Archäologen aufgeschlagen gewesen, doch auch dort hatten die Diebe alles Brauchbare mitgehen lassen, einschließlich der Fahrzeuge und aller Lebensmittel. Verzweiflung wollte sich in Natalia breit machen. Warum hatte sie überlebt, wenn sie nun doch zum Sterben verurteilt war? Wann würde man die Archäologen vermissen, die sich nicht regelmäßig irgendwo melden sollten? Wann würde jemand nachsehen, was aus ihnen geworden ist? Die letzte Station, die sie passiert hatten, war der Stützpunkt der Soldaten gewesen. Und die würden schweigen.
Sie kehrte zurück auf das
Gräberfeld, ohne zu wissen was sie antrieb, und setzte sich an den Rand eines
geöffneten Kurgans. Sie erinnerte sich, dass sie selbst dieses Grab untersucht
hatte, und dass der seltsame Stein in ihren Händen aus diesem Grab stammte. Das
Grab war nahezu unversehrt, ebenso der Tote, denn es waren nur wenige
Grabbeigaben darin gewesen und diese hatten keinen oder kaum materiellen Wert
gehabt. Außer dem Stein in ihren Händen. Resigniert starrte Natalia auf den toten
Körper in dem Grab, der, anders als die Personen in den übrigen Gräbern, nur in
grob gewebte Stoffe und Lammfelle gekleidet war. Erst jetzt fiel ihr bewusst
auf, wie groß dieser Körper war. Für die damalige Zeit musste der Mann ein
Riese gewesen sein, hochgewachsen und schlank, eine Ehrfurcht gebietende
Persönlichkeit. Neben ihm lag ein Holzstab, der so lang war wie der Körper.
Verwitterte Schnüre zierten ihn, an denen Knochen und andere Dinge hingen, die
für die Grabräuber keinen Wert hatten. Wer mochte dieser Mann gewesen sein?
"Ein Schamane der Skythen", erklang eine tiefe Stimme hinter ihr als Antwort auf ihre gedachte Frage. Oder hatte sie die Frage ausgesprochen? Die Stimme war sanft und beruhigend, daher empfand Natalia keine Furcht, als sie sich umdrehte und den Mann hinter sich betrachtete.
...