Schwarzes Glas

Auszug

»Was ist das denn jetzt für eine Sache, die Sie mir zeigen wollten, Bill? Hat es etwas mit diesen Zeichnungen zu tun, die Sie in Ihrer Universitätsbibliothek ausgegraben haben? Die Bilder der Expedition von 1840, als Catherwood die Ruinen in seinen Tuschebildern darstellte?«, drängte Laymon und sah sich misstrauisch um, ob ihm jemand gefolgt war.

Porter nickte nur, obwohl Laymons Vermutungen völlig falsch waren, und fasste sich ein Herz, in den dunklen Wald zu gehen. Erst weit ab vom Lager der Archäologen schaltete er seine Taschenlampe und schritt voran zum Tempel der Inschriften, den man tags zuvor von allem Bewuchs befreit hatte. Zusammen mit dem Turm des Palastes war der Tempel das am besten erhaltene Gebäude der Maya-Stadt Lakamha‘, die man nun Palenque nannte. Einst war sie die Hauptstadt des Reiches B’aakal gewesen.

Beide Männer erschauerten unwillkürlich, als sie an dem gewaltigen Baumstamm vorbei kamen, den man an der Rückseite des Tempels gefällt hatte. Der Baum, dessen Art der Botaniker nicht zweifelsfrei hatte bestimmen können, hatte für sein Ableben drei Menschenleben, mexikanische Arbeiter aus dem Norden, gefordert. Porter erinnerte sich mit Grausen an den Vorfall, der ihm noch immer Alpträume bescherte.

Man hatte den Baum bereits grob entastet, doch einzelne feinere Äste waren am Stamm verblieben und hingen wie die Tentakel eines Tintenfisches schlaff an der Säule aus Holz herunter, die selbst auf halber Höhe noch so dick war wie ein Mann hoch. Porter war nicht der Einzige, der fest daran glaubte, dass der Baum sich gegen seine Fällung gewehrt hatte. Die Arbeiter aus der Gegend, eingeborene Lacandonen waren nicht gewillt gewesen, Hand an ihn zu legen und hatten in einem Fort den Namen Wacah Chan gemurmelt. Porter wusste um die Bedeutung dieses Namens. Wacah Chan ist der Name des Weltenbaumes der Maya-Mythologie. Wie die skandinavischen Völker glauben auch die Maya, dass die Menschheit im Bereich des Stammes lebte, in den Ästen des Baumes die Götter wohnten und in den Wurzeln das Totenreich zu finden war.

»Nun machen Sie schon, Porter, ich will heute Nacht auch noch einmal schlafen. Und wehe Ihnen, wir sind umsonst hier unterwegs!«

Gemeinsam erklommen sie die hüfthohen Stufen des Tempels von der Rückseite. Porter zählte dabei die Reihen der Steine, die sie überwanden und auf einer bestimmten Höhe deren Anzahl. Der Stein, den er suchte, befand sich direkt neben dem gewaltigen Wurzelstumpf, der schräg aus der Mauer herauswuchs. Das Herz des Logistikers legte einige Schläge in der Frequenz zu. Eine dicke Wurzel hatte die Fugen zwischen den Steinen aufgedrückt und einen schmalen Hohlraum freigelegt. Porter leuchtete in den Spalt und stellte ernüchtert fest, dass sich das Licht der Lampe in einem tiefen Schacht verlor.

Laymon lehnte sich über ihn und kicherte vergnügt. »Wundervoll! Das muss der Zugang zu einem Grab sein. Porter, Sie sind klasse! Woher wissen Sie das?«

»Ich bin nur hier dabei, weil ich jemanden suche«, gab Porter kleinlaut zu. »Vor zwanzig Jahren brach eine Expedition ohne Grabungsgenehmigung auf. Das letzte Lebenszeichen war ein Telegramm des Expeditionsleiters Finlay, in dem er den Zugang beschrieb. Als der Bote hierher zurückkehrte, fand er nichts mehr vor. Nur noch die Ruinen. Ich will wissen, was damals passiert ist!«

»Dann ist das also nichts Neues?«, maulte Laymon. »Aber außer Ihrer wunderbaren, bedeutungslosen Universität kennt niemand diesen Zugang? Schön, dann gibt es ja doch noch eine Chance für mich.«

Er zwängte sich mit Porter durch den Spalt. Dahinter ging eine schmale, steile Treppe in die Tiefe des pyramidenartigen Tempels. Von nun an ging Laymon voran, ganz der furchtlose Entdecker, während Porter sorgfältig die Decke des Gangs ableuchtete. Ihm war nicht wohl, als er die vielen Wurzeln sah, die wie Spinnweben von der Decke hingen. »Der Zugang nach Mitnal … Der Wurzelstock des Weltenbaumes …«, murmelte er beklommen, folgte aber Laymon, denn er brauchte Antworten.

Laymon stieß einen Jubelruf aus und Porter beeilte sich mit seinem Abstieg. »Eine Grabkammer, Sam, und sie scheint unberührt. Schauen Sie nur, was für eine wundervolle Grabplatte.«

Das Licht von Laymons Taschenlampe strich über eine fein gemeißelte Platte mit der Darstellung eines Königs, der unter dem Weltenbaum in Opferhaltung lag. »Das muss das Grab von Pakal, sein, dem Herrscher von Palenque, dem so viele Schriften gewidmet sind. Wir haben es als erste entdeckt, Sam!«

Doch Porter antwortete nicht. Das Licht seiner Lampe war an den gewaltigen Wurzeln entlang geglitten, die sich über die Decke der Kammer zogen und an den Wänden herabhingen. Doch nun war das Licht fest auf die Wand hinter dem Sarkophag gerichtet. Laymon schwenkte sein Licht ebenfalls auf diesen Punkt und erkannte, was Porter erschreckt hatte.

Ein Toter.

Der Mann saß mit dem Rücken zur Wand der Grabkammer und sah mit leeren Augen unbewegt und starr den beiden Neuankömmlingen entgegen. Eine Wurzel durchbohrte den hageren Körper genau auf Höhe des Herzens und rollte sich vor dem Bauch zusammen wie der Rüssel eines Schmetterlings. Der Körper wirkte, als sei der Mann erst seit wenigen Stunden tot, und doch hatte die Haut etwas Wächsernes, Trockenes, das an die mumifizierten Körper altägyptischer Pharaonen gemahnte.

Laymon sah mit großen Augen zu seinem Begleiter. Porters Gesicht war ein Abbild puren Grauens, wie es kein Schauspieler jemals in dieser Tiefe wiedergeben konnte. Wut, doch nicht der Erste gewesen zu sein, der die Kammer betreten hatte, stieg in ihm auf. Doch das Entsetzen über die Art und Weise des Ablebens des Fremden ließ ihn den Ärger herunterschlucken.

»Wer ist das?«, keuchte Laymon, und bemühte sich um einen strengen Tonfall, der ihm angesichts des Toten nicht recht gelingen wollte.

»Das ist …«, stotterte Porter, » …das ist …« Weiter kam er nicht, denn ihn umfing eine gnädige Ohnmacht.

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