Die Heiligen der Nacht

Auszug

Es war so schrecklich kalt. Hatte er nur geträumt und lag wieder auf seiner Pritsche? Er fühlte sich steif und kaum zu einer geordneten Bewegung fähig, doch schließlich gelang es Tomas, seine Augen zu öffnen. Und wünschte sich, es nicht getan zu haben. Was war das nur für eine seltsame Perspektive? Wo war er?

Entsetzen kroch ihm über den Rücken, als er unter den Trümmern vor sich Teile eines Körpers erkannte, die in die Kutte eines Karmeliternovizen gehüllt waren. Was war das für eine Teufelei?

Staub waberte über die Trümmer und Ruß lag auf allem. Roch er tatsächlich den Rauch?

Endlich gelang es ihm, sich zu bewegen, und er betrachtete seine Hände. Kalkweiße Finger, die nicht die seinen waren. Ein ebenso gespenstisch weißer, nackter Körper, der in ein Tuch gewickelt war. Und was war das auf seinem Rücken? Als er die Schultern durchdrückte, schwappte etwas nach vorne: weiße Federn, ausgreifende Schwingen.

Tomas zuckte zusammen und kippte nach hinten weg, weil die Last der Schwingen zu groß wurde. Fiel von dem niedrigen Sockel, auf dem er stand. Dem Sockel des steinernen Engels. Perplex blieb er einen Moment wenig elegant auf seinem Hinterteil sitzen und starrte den fein bearbeiteten, fast weißen Kalksandstein an. Dann richtete er sich vorsichtig auf und trat an den Schutthaufen heran. Dort lag sein Körper, tot und zerquetscht. Wahrscheinlich würde ihn niemand bergen und ihm ein angemessenes Begräbnis gönnen. Noch immer brannte es rundherum und das Atmen wurde schwer.

Über Tomas huschte ein Schatten hinweg und er hörte Flügelschlagen, das eine erschreckende Erinnerung in ihm weckte. Das Geräusch im Kreuzgang. Das fliegende Objekt kehrte zurück und mit Entsetzen erkannte Tomas, dass es kein Vogel war, sondern etwas völlig Unnatürliches. Aber war er das nicht auch?

Behutsam versuchte er, seine Flügel zu beherrschen und tatsächlich hoben sie ihn vom Boden ab. Ein Gefühl zwischen Angst und Euphorie beherrschte ihn nun, oder war es beides zur gleichen Zeit? Es gelang ihm, sich über die Trümmer zu erheben und aus der Feuerhölle heraus zu fliegen. Pragmatische Gedanken, dass man ihn sehen konnte, weil er so hell war, und dass er nicht landen könne, verdrängte er erst einmal. Er wollte nur weg von dem Kloster, das ihn getötet hatte.

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