Die Luft der Freiheit - Auszug

Thure fuhr hoch, was ihm sofort tückische Kopfschmerzen einbrachte. Er erschrak, als ihn kräftige Hände auf seinen Schultern gnadenlos wieder zum Liegen brachten. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in das bärtige Gesicht eines kräftigen, schon älteren Mannes und kämpfte um die Erinnerung an den Namen, die ihm wieder entgleiten wollte. „Karl … was …?“

Ein gütiges Lächeln sträubte den grauen Bart des Mannes, der genau so aussah, wie man sich einen waschechten Hamburger Schiffskapitän vorstellen mochte. Wettergegerbt, vierschrötig, gemütlich. Ein Schiffskapitän war er auch, allerdings für Luftschiffe. Damit war er in seiner Heimat Hamburg ein Exot und nicht besonders angesehen, weil man in der traditionellen Schifffahrt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sah. Luftschiffe waren für Hamburger nur eine Modeerscheinung ohne Zweck, Vergnügen für Reiche, die bald wieder vom Himmel verschwinden würde. Der Luftschiffhafen in Fuhlsbüttel war daher, als Thure aus Amerika in seine Heimat zurückgekehrt war, kaum mehr als eine verlorene Ansammlung gescheiterter Träume von der Eroberung des Himmels.

Luftkapitän Karl-Hauke Brantrup war der Verwalter dieses Friedhofs der Hoffnungen, bis Thure kam und alles wieder neu belebte. Und auch reiche Geldgeber fand, die mit ihm träumten.

Doch das alles war wie eine Seifenblase geplatzt. Die Erinnerung kehrte in Thures schmerzenden Kopf zurück. „Was …?“

„Ich hab’ dich gerade noch packen können, als du Dummheiten machen wolltest, Jungchen!“, polterte Karl los. „Ich hatte es im Urin. Als ich gesehen habe, wie du mit der Zeitung hoch geklettert bist, bin ich dir gefolgt. Haste nicht bemerkt, so weggetreten warste. Bist ein bisschen mit dem Kopf gegen den Steg geknallt. Hast dich nicht mehr gegen deine Rettung wehren können!“

Ein Zwinkern nahm der Standpauke ihre Strenge und Thure musste wider Willen lachen. „Warum hast du mich nicht gehen lassen, Karl? Es ist doch alles vorbei.“

„Isses nicht!“, knurrte Karl, ehrlich erzürnt. „Das ist Verrat, besonders an dem armen Senator Hinrichs. Das kannnste nicht zulassen! Damit hätte die ‚Dame‘ ihr Spiel doch gewonnen.“

Thure schwieg und versuchte die Gedanken in seinem schmerzenden Schädel zu ordnen. Die ‚Dame‘ … Karl hatte ihn schon von Anfang an vor der Gräfin von Paapen gewarnt und Zweifel an den Interessen geäußert, die sie an der Förderung des Baues eines neuen, modernen Luftschiffes haben konnte. Seine Zweifel waren noch größer geworden, als herauskam, dass nicht sie selbst Thures Projekt zu fördern gedachte, sondern nur einen Geldgeber für ihn suchte und auch fand. Sie wollte diesen Mäzen ruinieren. Thure bemerkte, dass er den Zeitungsabschnitt noch immer in der Hand hielt und zupfte das Papier vorsichtig auseinander. Wieder schossen ihm Tränen in die Augen, doch dieses Mal waren es Tränen der Wut, nicht der Trauer.

Karl sah neugierig auf das Blatt, von dem er angenommen hatte, es sei die Meldung, dass sich Senator Hinrichs in seinem Haus erschossen hatte. Doch es war etwas anderes und Karl begann zu begreifen. Der Tod seines Geldgebers hatte Thure geschockt und alle seine Pläne zunichte gemacht. Kein Geld, kein Luftschiff mit all den schönen Neuerungen, die Thure erfunden hatte, wie zum Beispiel der neuen Steuerung. Doch den Ansporn zu der Verzweiflungstat hatte eine zur gleichen Zeit erschienene Meldung über eine bald stattfindende Hochzeit gegeben. Das Fräulein Gabriele Nauenburg, Nichte der Gräfin von Paapen, würde den Adeligen Gustav Graf zu Hohenstein-Eresberg ehelichen.

Thure zerknüllte das ohnehin fast unleserliche Blatt erneut und warf es in eine Ecke des Kontrollraumes, von dem aus man die Bewegung der Drehscheibe der Luftschiffhalle steuern konnte. Dann sah er Karl an, der seinen Mund geöffnet hatte, um etwas zu sagen, ihn wegen des Feuers in Thures Augen aber sofort wieder schloss. „Ich weiß, Karl, ich bin sicher, dass du auch das schon ahntest. Dass Gabriele kein echtes Interesse an einem dahergelaufenen Luftschiffingenieur haben konnte. Zumal der nur der Sohn eines Dampfschiffheizers ist, unterstes Niveau, normalerweise nicht einmal würdig, den Saum ihres Kleides zu küssen. Es ist nur … es ist so…“

Karl legte ihm den Arm um die Schulter und drückte ihn kräftig, so wie ein Vater seinen Sohn zu trösten versuchen würde. „Es ist ungerecht, natürlich, das ist das Leben immer. Doch wir dürfen nicht vor dem Unrecht davonlaufen, sonst wird es gefestigt. Hinrichs konnte nicht mehr, er stand vor einer Mauer und hat sich der Verantwortung entzogen. Aber du kannst vielleicht diese Mauer durchbrechen.“

„Wenn ich nur wüsste, wie!“, seufzte Thure, doch der Blick aus seinen grauen Augen widersprach der Hoffnungslosigkeit in seiner Stimme. „Wir brauchen Geld, Karl, viel Geld. Man hat uns in der letzten Zeit von vielen Seiten Steine in den Weg geworfen. Und nun ist unser einziger Geldgeber, der die vielen Steine von den Behörden aus dem Weg geräumt hat, tot. Ich will ihn rächen, doch ich weiß nicht, wie!“

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